Das Labor der Zukunft

Die Produktionslandschaft der Lebenswissenschaften

Die Lebenswissenschaften mit all ihren unterschiedlichen Disziplinen vereint das gemeinsame Ziel, Umgebungen, Prozesse oder Produkte zu verbessern, die in direktem Kontakt mit lebenden Organismen stehen. Das breite Themenspektrum geht mit sehr unterschiedlichen wissenschaftlichen und technischen Herausforderungen einher. Deshalb sind auch die Produktionstechnologien für die verschiedenen Aufgaben der Lebenswissenschaften unterschiedlich weit entwickelt. Dies betrifft besonders Kriterien wie die Skalierbarkeit, den Digitalisierungsgrad, die Reproduzierbarkeit und die Nachhaltigkeit der Produktionstechnologien, -systeme und -verfahren.

In der chemischen Industrie oder bei der Herstellung einfacher medizintechnischer Produkte sind die Produktionsstätten technologisch oft sehr weit entwickelt und folgen vielen Ansätzen, die sich unter dem Begriff »Industrie 4.0« zusammenfassen lassen. Fachrichtungen, die stärker an die Biologie angrenzen,  liegen hingegen beim Reifegrad ihrer Industrialisierung weiter zurück. Dafür gibt es verschiedene Gründe:

  • Biologische Variabilität
  • Personalisierung/Individualisierung
  • Komplexität und Zeitsensitivität der Herstellungsprozesse
  • Neuheits- und Innovationsgrad der Produkte
  • Qualitätsstandards und regulatorische Hürden 

Daher sind die Produktionsverfahren biologischer oder biohybrider Produkte häufig noch durch viele manuelle Prozessschritte geprägt. Viele Produkte werden also dauerhaft im Labor hergestellt und nicht in einer industriellen Produktionsumgebung. Zwar ist die Herstellung im Labor flexibler und anpassungsfähiger, jedoch können nur schwer hohe Durchsätze erzielt werden. Gleichzeitig ist der Arbeits- und nicht zuletzt auch der Personalaufwand dadurch sehr hoch. 

Dieser Trendreport beschreibt die Vision der modernen biotechnologischen Produktion, die die Vorteile des Labors mit denen industrieller Herstellungsprozesse vereint.

Vision vom Labor der Zukunft

Die Vision vom Labor der Zukunft beschreibt in Form eines Fallbeispiels die Herausforderungen der Bioproduktion:

Ein Biopharmaunternehmen produziert ein Produkt aus lebenden Zellen für den therapeutischen Einsatz am Menschen. Verschiedene biologische Voraussetzungen nehmen dabei Einfluss auf die Gestaltung der Produktion:

  1. Die Aufzucht der Zellen ist von einer großen Varianz begleitet: Es ist mit Schwankungen von +/- 30 Prozent bei der Zellausbeute zu rechnen.
  2. Die Verarbeitung besteht aus vielen komplexen und zeitintensiven Prozessen.
  3. Jedes Produkt muss für verschiedene Menschen individuell modifiziert und dosiert werden.
  4. Regelmäßige 100-Prozent-Qualitätskontrollen sind notwendig.
  5. Es bestehen hohe Anforderungen an die Reinheit der Produktionsumgebung.
  6.  Sämtliche Prozessdaten müssen präzise und ausführlich dokumentiert werden.

Bisher existieren keine kommerziell verfügbaren Produktionssysteme, mit denen biopharmazeutische Produkte unter diesen Bedingungen automatisiert, resilient und nachhaltig produziert werden können. Nach dem Stand der Technik erfolgt die Herstellung solcher Produkte nach den Richtlinien der GMP (Good Manufacturing Practice) in Reinraumlaboren mit hohem Personaleinsatz und vielen manuellen Arbeitsschritten. Vereinzelt werden für einzelne Prozessschritte teilautomatsierte Lösungen implementiert, zum Beispiel Pipettierroboter, um Liquid-Handling-Prozesse zu automatisieren, oder ein digitales Laborbuch, mit dem sich schnell und strukturiert Prozessdaten dokumentieren lassen.
Ein Produktionslabor, wie es in der Biopharmaindustrie weit verbreiteter Standard ist, ist durch folgende Merkmale geprägt:

  • Es gibt viele Arbeitsplätze an denen manuell gearbeitet werden kann.
  • SOPs (Standard Operating Procedures) werden digital angezeigt.
  • Daten werden in einem digitalen Laborbuch eingetragen.
  • Repetitive Liquid-Handling-Aufgaben werden von einem Pipettierroboter übernommen.
  • Qualitätskontrollen, z.B. durch Mikroskopie, werden manuell durchgeführt und manuell ausgewertet.
  • Material wird manuell transportiert.
  • Produkte werden teilautomatisiert verpackt und eingelagert.

Die Vision vom Labor der Zukunft arbeitet mit modernen Ansätzen der »Industrie 4.0«. Das »Labor 4.0« weist folgende Merkmale auf:

  • Es gibt eine vollautomatisierte integrierte Plattform. Es wird kein Personal im Reinraum benötigt. Sämtliche Laborprozesse können vollautomatisiert durchgeführt oder remote gesteuert werden.
  • SOPs werden in die Kontrollsoftware der Produktionsplattform überführt und automatisch abgearbeitet.
  • Sämtliche Prozesssdaten werden live nachgehalten und überwacht.
  • Qualitätskontrollen werden mittels Highspeed-Mikroskopie automatisch und effizient durchgeführt. Gleichzeitig werden die aufgenommenen Daten durch Künstliche Intelligenz (KI) ausgewertet und nächste Prozessschritte automatisch bestimmt.
  • Der gesamte Materialtransport erfolgt robotergesteuert/robotisch.
  • Verbrauchte Abfallmaterialien werden vorab automatisch sortiert und für die Wiederaufbereitung vorbereitet.

Die Umstellung manueller Biolabore auf digitalisierte und automatisierte Reinraum-Produktionsumgebungen für hochregulierte Produkte ist in vielen Unternehmen der Biopharmaindustrie noch nicht vollzogen. Einige Schlüsseltechnologien sind jedoch bereits verfügbar und in anderen Industriezweigen etabliert. Andere Technologien befinden sich noch in der Forschung und Entwicklung. 

In den nächsten Kapiteln werden einige der Technologien aufgeführt und erläutert, die Labore für die Transformation zum »Labor 4.0« befähigen – die sogenannten »Enabling Technologies«.

Abbildung 1: Visualisierung des »Labor 4.0« auf Basis der bestehenden Automatisierungsplattform »StemCellDiscovery«
des Fraunhofer IPT.

Enabling Technologies: Befähiger für die industrialisierte Bioproduktion

Ein grundlegender Baustein für moderne Produktionsumgebungen ist die Digitalisierung. Erst die Vernetzung aller Laborgeräte, Computer und robotischen Systeme ermöglicht die Automatisierung und führt zu einer deutlichen Steigerung der Effizienz. Das wiederum ist die Grundlage für eine nachhaltige und resiliente Produktion. Das Fraunhofer-Institut für Produktionstechnologie IPT in Aachen forscht intensiv an der Digitalisierung der Produktion – sowohl zur Vernetzung der Systeme als auch an der Steuerungstechnik und zum Datenmanagement mithilfe Künstlicher Intelligenz. 

Abbildung 2 zeigt die Digitalisierung mit ihren einzelnen Anwendungsfeldern als zentralen Befähiger für eine automatisierte, nachhaltige und resiliente Produktion.

Ein Ergebnis langjähriger Forschungsarbeiten des Fraunhofer IPT zur Laborautomatisierung, ist die Software »COPE«. Sie vernetzt Laborgeräte verschiedener Hersteller, bindet Maschinen, beispielsweise Industrieroboter in die Produktionsumgebung ein und bietet ein zentrales Benutzerinterface zur Steuerung einer vollständig automatisierten Plattform.

KI gewinnt in der industriellen Produktion stark an Bedeutung, denn die aktuellen, rasanten Weiterentwicklungen schaffen immer bessere Voraussetzungen für ein effizientes Datenmanagement. Für biomedizinische Anwendungen ist der Einsatz von KI jedoch mit Vorsicht zu betrachten: KI-Systeme sind noch immer oft eine »Blackbox« und die Ergebnisausgabe ist nicht immer transparent nachvollziehbar. Dies ist besonders kritisch, wenn es beispielsweise um den Umgang mit Patientendaten geht. Das Fraunhofer IPT arbeitet unter dem Schlagwort »Trustworthy AI«, an verlässlichen KI-Anwendungen, die einen sicheren Rahmen schaffen, der mit allen erforderlichen Regularien konform geht. 

Abbildung 2: Digitalisierung als zentraler Befähiger für resiliente und nachhaltige Produktionslabore

Eine weitere Schlüsseltechnologie für effiziente Produktionslabore sind moderne Messtechnologien und analytische Systeme, die eine solide Datenbasis für intelligente Auswertungen schaffen. Hier arbeitet das Fraunhofer IPT an drei Technologien, die für die Bioproduktion von besonderem Nutzen sein können:

  1. High-Speed-Mikroskopie (HSM): Diese Technologie ermöglicht die Hochdurchsatzanalyse von Proben, beispielsweise für Screening-Anwendungen oder 100-Prozent-Qualitätskontrollen größerer Produkte. Die HSM beschleunigt Analyseprozesse in starkem Maße bei besonders hoher Präzision.
  2. Optische Kohärenztomographie (OCT): Diese Technologie erlaubt es, biologische Proben nicht-invasiv, also berührungsfrei und ohne schädliche Strahlung, dreidimensional zu untersuchen. Auf diese Weise lassen sich beispielsweise Gewebestrukturen bewerten, ohne die Probe zu beeinträchtigen.
  3. Mikrofluidik-basierte Analytik: Dieses Verfahren eröffnet ein breites Spektrum an neuen Möglichkeiten, um spezielle Substanzen oder Viren nachzuweisen. Das Fraunhofer IPT verfügt sowohl über die entsprechenden Produktionstechnologien als auch über Erfahrung in der Entwicklung und Herstellung verschiedener Lab-on-Chip- und Lab-on-Disc-Geräte.

Diese Technologien schaffen die Grundlagen, um bisher manuell betriebene Biolabore zu automatisieren. 

Das Fraunhofer IPT hat bereits zahlreiche Automatisierungsprojekte erfolgreich umgesetzt. Abbildung 3 zeigt die drei Entwicklungsstufen des Automatisierungsgrades am Beispiel der CAR-T-Zellproduktion:

  • Manuelle Produktion: Im Reinraum werden Arbeitsschritte wie Pipettierprozesse und mikroskopische Qualitätskontrollen von entsprechend ausgerüstetem Personal an offenen Gefäßen durchgeführt.
  • Teilautomatische Produktion: Hier wird größtenteils in geschlossenen Systemen gearbeitet, sodass die Zellen nicht der Umgebung ausgesetzt sind. Einzelne Prozessschritte können bereits teilautomatisiert durch verschiedene Laborgeräte ausgeführt werden. Dadurch wird weniger Personal benötigt und das Risiko einer Kontamination ist geringer.
  • Vollständig automatisierte Produktion: Diese Entwicklungsstufe erfordert kein Personal für die einzelnen Prozessschritte. Die Zellproben werden in das System eingeführt und fertige Zellprodukte am Ende entnommen. Alle Qualitätskontrollen und Datenerfassungen erfolgen automatisch.

Eine der großen Herausforderungen für die biopharmazeutische Industrie und das Labor der Zukunft ist es, sämtliche Prozesse nachhaltig und klimaneutral zu gestalten. Ansätze zur Verringerung des ökologischen Fußabdrucks stoßen in der Bioproduktion jedoch auf Schwierigkeiten, da energieintensive Prozesse und Einwegartikel nach wie vor zum Standard gehören. Dies liegt hauptsächlich am hohen Reinheitsanspruch und an regulatorischen Vorgaben.

Abbildung 3: Drei Stadien von Produktionslaboren mit steigendem Automatisierungsgrad am Beispiel der CAR-T-Zellproduktion.