Interview mit Prof. Dr.-Ing. Dipl.-Wirt. Ing. Günther Schuh

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Prof. Günther Schuh ist Inhaber des Lehrstuhls für Produktionssystematik und Mitglied des Direktoriums des Fraunhofer IPT und des Werkzeugmaschinenlabor WZL der RWTH Aachen University. Er war Experte beim Autogipfel 2019 im Kanzleramt und hat mehrere erfolgreiche Unternehmen gegründet. Professor Schuh ist Wissenschaftler und Unternehmer in einem und gilt als Elektropionier in Deutschland.

Herr Prof. Schuh, welche Trends werden die Automobilindustrie in den kommenden Jahren am meisten beschäftigen?

Die Trends Automatisierung, Digitalisierung und Elektrifizierung führen zu disruptiven Veränderungen in der Automobilindustrie. Dabei treiben die Trends Urbanisierung, Energiewende, Nachhaltigkeit sowie die zunehmenden Ressourcenengpässe vor allem die Elektrifizierung des Mobilitätssektors an. Die Folgen für den Wirtschaftsstandort Deutschland sind dabei einschneidend. Große Teile des produzierenden Gewerbes hängen direkt oder indirekt mit der Automobilbranche zusammen, sodass sich Wertschöpfungsketten grundlegend verändern werden. Gleichzeitig verändert die fortschreitende Automatisierung und Digitalisierung das Industrieumfeld. Durch cyber-physische Systeme, wie das „Connected Car“, ist es möglich, für Nutzer während der Nutzungsphase immer neuen Wert zu schaffen und in diesem Zuge neue Branchen zu erschließen. Um nachhaltig Wert zu schöpfen, müssen Prozesse in ihrer Gesamtheit, also End-to-End betrachtet werden. Dabei ist es unabdingbar, den Kunden und dessen Interaktion mit Produkten und Systemen ebenfalls zu berücksichtigen. Um die Marktposition zu halten, ist es wichtig, sich nicht mit dem Status quo zufrieden zu geben, sondern Projekte und Aktivitäten sowohl im Kernkompetenzbereich der Unternehmen als auch außerhalb davon anzustoßen. Erfolgsentscheidend ist dabei vor allem ein tiefes Verständnis von Kundenbedürfnissen und Technologiepotenzialen. Diese Anforderungen stellen viele Unternehmen jedoch vor massive Probleme.

Warum wenden sich etablierte Autobauer in diesem Fall an Sie, einen Professor an einer technischen Universität?

Das Besondere bei uns ist das Zusammenspiel von Wissenschaft und Wirtschaft auf dem RWTH Aachen Campus. Die anwendungsnahe Forschung renommierter Forschungseinrichtungen der RWTH Aachen University sowie der Fraunhofer Gesellschaft bietet Unternehmen und Industriekonsortien einen Nährboden für die Realisierung von Innovationen. Mit Start-ups wie der e.GO Mobile AG und StreetScooter GmbH haben wir bereits gezeigt, dass innovative Produkte durch umfangreiches Kundenverständnis, kundenzentrierte Produktentwicklung und agile Produktionssysteme erfolgreich entwickelt und in den Markt gebracht werden können. Industrieunternehmen finden also perfekte Bedingungen vor und können von unseren Kompetenzen und Erfahrungen profitieren.

Stichwort agile Produktionssysteme: Wie können produzierende Unternehmen heute agiler werden?

Unternehmen sollten die bereichsübergreifende Zusammenarbeit der Disziplinen noch stärker üben. Das heißt, dass man zum Beispiel zwischen Entwicklung, Konstruktion und Arbeitsplanung enger zusammenarbeitet und damit die Kooperationsproduktivität im Unternehmen verbessert – vor allem Ingenieure bringen lösungsorientiertes Denken mit. Allerdings müssen dafür bestehende Geschäftsmodelle in Richtung flexibler Produktionspraktiken neu ausgerichtet werden. Schlüssel hierzu ist die Automatisierung der Produktionsprozesse mit einer durchdachten Mensch-Maschine- und Maschine-Maschine-Kommunikation. Durch die bessere Auswertung des Quantitativen wird eine erhebliche Produktivitätssteigerung möglich.

Wie bewerten Sie unter diesen Aspekten den Einfluss der Digitalisierung auf die Produktentwicklung in der Automobilbranche?
Als Revolution. Digitalisierung ist für mich die Industrie 3.0, also die Automatisierung mit entsprechenden Steuerungen. In diesem Stadium befinden sich die meisten Unternehmen aktuell. Neu kommt jetzt als vermeintliche vierte industrielle Revolution die volumenstarke Interaktion über das Internet zwischen den digitalisierten physischen Systemen. Der Einfluss ist dann radikal. Außerdem treibt die Digitalisierung auch die Mobilitätswende voran und inspiriert neue Fahrzeugkonzepte. Gänzlich neue Mobilitätskonzepte entstehen und revolutionieren die Verkehrsinfrastruktur durch gesteigerte Nutzungseffizienz. Die intelligenten, kommunizierenden und adaptiven Fahrzeuge ermöglichen einen dynamischen, vorbeugend gesteuerten Verkehr.

Weg vom reinen Automobilhersteller hin zum Anbieter von Mobilitätsdiensten – wo stehen die deutschen Unternehmen auf diesem Weg?

Die gesamte deutsche Autoindustrie hat viel Erfahrung vorzuweisen, vor allem bei skalierbaren und qualitativ hochwertigen Produktionsprozessen. Zusätzlich hat sie gutes Marktverständnis, technologisches Know-how – insbesondere im Bereich der Verbrennungsmotoren – und starke Marken. Um die anstehenden Herausforderungen zu meistern, muss die Automobilbranche in Deutschland ihr Kundenverständnis stärken, indem sie Technologietrends, wie die Elektromobilität noch stärker aufgreift, Zukunftsszenarien erarbeitet und den Mut zur Erschließung neuer Absatzpotenziale aufbringt. Der Wunsch des Kunden hat dabei eine zentrale Rolle zu spielen, denn nur wer seinen Kunden versteht, kann zu Bedürfnissen passende Produkte entwickeln und neue Märkte erschließen. Zulieferer können sich nicht mehr nur auf das Lastenheft der OEMs verlassen, sondern müssen sich ihre Spielfelder zukünftig selbst aktiv gestalten und dabei den Wert von Daten als erfolgsbringenden Faktor einbeziehen, um nicht in der Wertschöpfungskette noch weiter nach hinten gedrängt zu werden.

Vielen Dank für das Interview, Herr Prof. Schuh!