Interview mit Paul Scholz
Maschinell lernende Systeme könnten zukünftig der technologische Befähiger datengetriebener Anwendungen sein. Gehen wir am Industriestandort Deutschland das Thema künstliche Intelligenz überhaupt richtig an?
Klar ist: Die schnelle und zielführende Auswertung großer Datenmengen ist eine Schlüsselfähigkeit, um in der digitalen Zukunft bestehen zu können. Im aktuellen Hype geraten allerdings der tatsächliche Funktionsumfang, mögliche Einsatzszenarien und dahinterstehende Geschäftsmodelle aus dem Blick. Wichtig für Unternehmen ist es, jetzt zu erkennen, in welchen Bereichen maschinell lernende Systeme welche Aufgaben, auf welche Weise und in welchem Maß erfolgreich bewältigen können. Es gilt, geeignete Einsatzfelder zu identifizieren, Systeme anzulernen und in bestehende Prozesse einzubauen.
Daten sind der Rohstoff für maschinell lernende Systeme. In Europa ist die Speicherung und Nutzung personenbezogener Daten klar geregelt. Wie können produzierende Unternehmen ihre weltweite Führungsposition im Wettbewerb mit Tech-Unternehmen aus China und den USA behaupten?
Restriktionen existieren nur für personenbezogene und für personenbeziehbare Daten. Diese stellen allerdings nur einen kleinen Anteil der Produktdaten dar. Die Nutzung anonymisierter Produktdaten oder Produktionsdaten ist weniger streng geregelt, wird bisher jedoch von Tech-Unternehmen weniger stark vorangetrieben. Aus meiner Perspektive könnte ein Weg, um die Führungsposition zu behalten, folgendermaßen aussehen: Unternehmen müssen im ersten Schritt ihre Produkt- und Produktionsdaten sammeln und einen digital-durchgängigen Data Lake mit offenen Schnittstellen zur Andockung von Start-ups schaffen. Auf Basis dieser Daten und unter Nutzung maschinell lernender Systeme können Start-ups Anwendungen entwickeln – zum Beispiel im Bereich von Kundenmehrwertdiensten, Optimierung der Geschäftstätigkeit oder »IT for IT«. Der Geschäftsfokus des Start-ups kann durch die Unternehmen vorgegeben und die geeignete Kooperations- und Beteiligungsform gewählt werden – Build, Buy, Partner oder Invest. So gewinnen Unternehmen wertvolle Erkenntnisse, diversifizieren ihr Kerngeschäft und schließen Wetten auf ein außerordentliches Umsatzwachstum ab. Um »Wildwuchs« zu vermeiden und die begrenzten Ressourcen sinnvoll zu allokieren, bedarf es auf Seite der Unternehmensführung einer »Mission Control«, die die verschiedenen Aktivitäten steuert und priorisiert. Exemplarisch für die beschriebene Idee kann das Vorgehen des Pharmakonzerns Roche genannt werden: Roche hat mit der Übernahme des Unternehmens Flatrion, Betreiber elektronischer Informationssysteme und Datenbanken verschiedener US-Kliniken, zukünftig die Möglichkeit, diese Daten Machine-Learning-basiert in seiner Diagnostiksparte und in der eigenen Forschung zu nutzen.
Die Datenbasis eines Unternehmens ist die Urmasse für verschiedene Plattformen, auf denen Services bereitgestellt werden können. Müssen Unternehmen also neben ihrem Kerngeschäft zu einer Plattform werden? Gibt es beachtenswerte Best Practices, die belegen, dass die Transformation gelingen kann?
Ja, das ist die Idee und es gibt auch einige beachtenswerte Best Practices. Ich möchte an dieser Stelle die Transformation des Unternehmens Viessmann exemplarisch nennen: Viessmann hat es geschafft, sich vom Heizungsbauer zum Gestalter zukünftiger Lebensräume zu entwickeln. Und zwar durch konsequente Digitalisierung und die Einbindung verschiedenster Partner. Die Einbindung und Beteiligung von Start-ups folgt einem professionellen, strukturierten Prozess unter der Nutzung verschiedener Kanäle zur Kooperation für zum Beispiel Company–Building- und Venture-Capital-Aktivitäten.
Wie kann das strategische Technologiemanagement bei diesem Prozess unterstützen?
Das strategische Technologiemanagement hilft zunächst, Technologiefelder fundiert zu analysieren, Use Cases aufzuzeigen und daraus geeignete Business Cases abzuleiten. Neben dem klassischen Start-up-Scouting und der Anbahnung möglicher Kooperationen oder technologischer Evaluierung von Akquisitionszielen bedarf auch die Gesamtprozessgestaltung einer technologiestrategischen Komponente. Eine fundierte Kenntnis von Technologie- und Markttrends und der Zugriff auf ein Expertennetzwerk sind dabei erfolgsentscheidend.
Wie ist Ihre persönliche Einschätzung: Kann der deutsche Mittelstand in der digitalen Welt der globalen Konkurrenz etwas entgegensetzen?
Meiner Meinung nach kann das nur mit einer Technologieführerstrategie gelingen – in »Winner-takes-it-all-Märkten« ist der Zweite der erste Verlierer. Ich bin überzeugt, dass »Einzelkämpfer« im Wettbewerb chancenlos sind – nur im Netzwerk und durch Partnerschaften mit Komplementären wie Technologieunternehmen bleiben Unternehmen auf diesem Weg konkurrenzfähig. Eine strategische Neuausrichtung kann nur gelingen, wenn Unternehmen die Digital-Skills ihrer Mitarbeiter konsequent und umfassend entwickeln. Denn neben Daten sind qualifizierte Mitarbeiter die wichtigste Ressource im Wettbewerb.